Bestimmte Yoga-Praktiken können dazu eingesetzt werden, den Energiefluss zu regulieren. Nicht jede Übung hat diese Wirkung und die Praktiken wirken auch nicht auf jeden Menschen gleich. Aber es gibt für jeden, der unter den Folgen eines eingeschränkten Energieflusses leidet, hilfreiche Übungen, die die Situation verbessern können. Der Energiefluss ist zwar ein energetisches Konzept, das nicht so klar messbar ist, nichtsdestoweniger beschreibt er eine Realität, die man beobachten und an sich selbst erfahren kann.
Was ist Energie im Yoga?
Das Wort für Lebensenergie im Yoga ist Prana (Sanskrit: wörtlich „besonderer Führer“). Die ayurvedische Bezeichnung dafür heisst Vata (wörtlich: Wind). Prana ist die Energie, die in jedem Lebewesen vorhanden ist und es auch umgibt. In der Hatha Yoga Pradipika wird sie an vielen Stellen erwähnt. Prana steuert alle Lebensprozesse im Körper. Es ist für jede Art von Bewegung im Körper verantwortlich. Egal, ob es sich um die Zirkulation des Blutes, die Darmperistaltik oder um die Motorik der Gelenke handelt, all das und vieles andere mehr wird unter Prana subsummiert.
Was ist mit Regulierung des Energieflusses gemeint?
Das Konzept von Energie im Yoga beschäftigt sich mit verschiedenen Themen. Oft geht es darum, Energie zu zentrieren oder Energieblockaden zu lösen, in vielen Fällen soll die Energie erhöht oder gesenkt werden oder man möchte die Energie in bestimmte Bereiche bringen. Die Regulierung des Energieflusses, um den es hier gehen soll ist der erste Schritt, der getan werden muss, bevor man Energie irgendwohin lenken kann. Wenn Energie zerstreut ist, muss sie erst gesammelt werden, bevor sie verteilt werden kann. Während im Zustand von zerstreuter Energie das Prana zu einem guten Teil außerhalb des Körpers und außerhalb der Körpermitte fließt, führt Zentrierung der Energie dazu, dass diese in den entsprechenden Bahnen im Körper fließt. Mit der Regulierung des Energieflusses wird Energie also nicht vermehrt, sondern so in Fluss gebracht, dass sie für die weitere Nutzung gut verfügbar ist. Das Sanskrit-Wort für dieses Konzept heisst „Vata Anulomana“, wörtlich bedeutet es: die Energie in die richtige Richtung bringen.
Blockaden hemmen den Energiefluss und umgekehrt
In der Tradition des Yoga nach Krishnamacharya und Desikachar gehen wir davon aus, dass jede Art von Erkrankung oder Unwohlsein einhergeht mit einem Verlust an Zentrierung. Diese Einschränkung des Prana-Flusses kann entweder die Ursache sein für ein körperliches oder auch seelisches Problem. Der Energiefluss wird aber auch in Folge eines Unwohlseins oder einer Krankheit reduziert. Ein Beispiel für den ersten Fall sind Schlafstörungen durch Alltagsstress. Stress ist eine häufige Ursache für den Verlust der Zentrierung. Wenn jemand anderseits ein Knieproblem hat, ist es einfach nachzuvollziehen, dass die daraus resultierende Fehlbelastung eines Beins einen gestörten Energiefluss nach sich ziehen kann.
Der Energiefluß wirkt auf Körper und Geist
Es ist daher einleuchtend, dass Maßnahmen zur Erhöhung des Energieflusses eine weitreichende Wirkung auf das Wohlbefinden und auf die Gesundheit haben. Das entspricht auch meiner Erfahrung. Je schlechter es jemandem geht, und das gilt sowohl für den Körper als auch für den Geist, desto eher wird er von Übungen für den Energiefluss profitieren. Und gerade wenn jemand nicht an einem konkreten Problem leidet, sondern viele kleine Wehwehchen hat, ist das ein Hinweis, dass der Energiefluss ein Thema ist. Naturgemäß ist die Neigung zur Zerstreutheit ein klares Indiz für einen nicht-optimalen Energiefluss, ebenso eindeutig ist jede Beeinträchtigung des natürlichen Atemflusses egal welcher Ursache, denn die Atmung ist jenes körperliche Phänomen, das dem Prana am nächsten ist.
Wie kann man seinen Energiefluss regulieren?
Zentral für die Regulierung des Energieflusses sind Bewegungen, die mit der Atmung verbunden werden. Und zwar geht es um eher einfache Bewegungen: sie sollen weder Körperbereiche, die gerade schmerzen, reizen, noch den Atem in Unruhe bringen. Die Achtung auf eine ruhige, langsame Atmung bei den Atem-Bewegungsübungen ist ein weiterer wichtiger Punkt. Vata sitzt nämlich nach der Ayurveda-Lehre im Unterbauch. Dieser Bereich kann durch einfache Atem-Bewegungs-Übungen am besten entspannt werden.
Wie geht man vor, wenn der Energiefluss eingeschränkt ist?
Wer sich also seine eigene Übungspraxis zusammenstellt, möge zuerst auf klare Indizien für einen eingeschränkten Energiefluss achten (Stress, Atemprobleme, Unruhezustände, etc.). Wenn es da keinen klaren Hinweis gibt, lässt sich von körperlichen Beschwerden aller Art ebenfalls auf einen nicht optimalen Energiefluss rückschließen. Je stärker man die Einschränkung einschätzt, desto höher sollte der Anteil dynamischer Übungen in der Praxis sein und desto einfacher sollten die Übungen sein. Denn nicht jede dynamische Übung hilft jeder Person. Wer ein Knieproblem hat, wird vielleicht eher die Knie in der Rückenlage bewegen wollen als im Vierfüßerstand und wer zu Nackenbeschwerden neigt, macht die Drehbewegungen besser in Haltungen, in denen der Schulterbereich frei ist statt in der Rückenlage.
Kleiner Einsatz, großer Gewinn
Das Schöne an der Arbeit mit dem Energiefluss ist, dass es die einfachen Übungen sind, die zum Erfolg führen. Wer glaubt, man muss sich anstrengen, um seine Probleme loszuwerden, wird hier eines Besseren belehrt. Ich hab selbst erlebt, dass Yoga-Übende mit ganz einfachen Bewegungen auf einen Schlag mehrere Probleme losgeworden sind. Zunächst jenes, wegen dem sie gekommen sind, und daneben noch die anderen, die sie gar nicht erst erwähnt haben.
Aber natürlich ist die Verbesserung des Energieflusses kein Ersatz für eine Yoga-Therapie. Es handelt sich um den ersten, aber unabdingbaren Schritt für die Besserung. Im Yoga-Gruppenunterricht, wo Menschen mit sehr verschiedenen Problemen zusammen kommen, ist oft auch nicht viel mehr möglich, als über den Energiefluss zu arbeiten. Da profitieren alle davon, das Eingehen auf jedes einzelne Problem ist in der Regel nicht möglich. In der Einzelarbeit kann diese Technik wesentlich gezielter eingesetzt werden.
Was kommt danach?
Mit dem Zentrieren hat man den ersten Schritt getan, um die Energie verfügbar zu machen und vielleicht auch Schmerzen oder Unwohlsein verbessert. Für Menschen, die gerade stark durch ein Thema belastet sind, ist das für den Moment oft ausreichend. Mehr zu wollen, könnte zu einer Inbalance führen. Wenn jemand gesund ist und seine Praxis intensivieren möchte, dann kann er nach dem Vata Anulomana-Teil seine Energien lenken. Die Konzepte, die ich dafür verwende, gehen zB in die Richtung von Stärkung des Verdauungsfeuers (sanskrit: agni) oder in Richtung von Energieaufbau (Sanskrit brmhana), um nur zwei Beispiele zu nennen. Ersteres repräsentiert mehr die Sonnenkraft im Yoga, zweiteres die Mondkraft. Letztere wird Gegenstand eines Tagesworkshops, den ich im Sommersemester anbiete möchte.